Die Idylle der Berge? Alles auf Anfang. ODER: Immer wieder neu in der Stadt.

Hast du Teil 1 der „Neuling“-Serie schon gelesen? Super 🙂 Dieser Text ist auch auf Englisch erschienen. / This article is also available in English.

Heute beschreibe ich meine ganz persönlichen Erfahrungen und Learnings darüber komplett von vorne anzufangen: Neuer (erster) Job, neues Umfeld und neuer Freundeskreis. Wie ist es in einer Stadt Neuling zu sein, in ein anderes Land zu ziehen und dort in eine benachbarte Kultur einzutauchen.

Vorab ein Disclaimer: Ich werde im Folgenden ein paar zutiefst persönliche Beobachtungen beschreiben, möchte aber keinesfalls generalisieren. Hochgerechnet hatte ich in den 6 Jahren vor Ort mit geschätzt 1500 Leuten lose Berührungspunkte (an der Kasse, im Restaurant, beim Arzt, in der Tram, bei Awards-Feiern, im Club etc.), mit 500 Menschen längere Gespräche geführt (bei Bewerbungen, in der Statisterie, im Tierschutz-Verein etc.) und arbeitete mit zirka 150 Leuten in verschiedenen Agenturen und als Freelancerin zusammen. Nach ein paar Jahren in Innsbruck wurden meine Bemühungen gekrönt durch 10 gute Bekannten und 3 Freunde. Also geht es im Folgenden um nicht mal ein Prozent aller Innsbrucker|innen. Ich beschreibe eher eine allgemeine, persönliche Beobachtung aus den kleinen und großen Momenten, wie sie das Leben eben schrieb.


Von der Haustür auf den Berg

Vor und während meines Studiums war ich mit Freunden gerne in den Bergen gewesen. Sogar meine Abschlussarbeit und Forschung drehte sich um ein Orientierungssystem für die Alpen.

Beim Wandern und Hochtouren-Gehen genoss ich die Anstrengung, die Weite, den Ausblick und das Gefühl nach einer Tour die Muskeln und Füße zu spüren. Die Mischung aus Strategie, Kraft und Überwindung reizten mich am Klettern. Bergsport forderte mich damals genau im richtigen Maße körperlich und geistig heraus.

Die Möglichkeiten wannimmer in die Berge zu gehen und somit abschalten zu können, wollte ich gerne vor der Haustür wissen.

Ich zog also zugunsten meines Hobbys nach Innsbruck, denn ich hatte zuvor entsprechend Zeit gehabt und Muße verspürt. Doch in Innsbruck, als Angestellte, schwand nach und nach die Energie für ein exzessives Hobby. Auch machte es wenig Spaß am Berg immer alleine unterwegs zu sein. Alsbald änderten sich also meine Prioritäten in Richtung “beruflicher Profession”, mit nur noch einem bisschen Privatleben. Bald versuchte ich also abseits des Bergsports, in Innsbruck Anschluss zu finden. Und das war deutlich härter als eine Tagestour auf die Nordkette und wieder runter 🙂


Die Hauptstadt der Alpen

Innsbruck. Die Hauptstadt der österreichischen Region Tirol hat offiziell 132.110 Einwohner|innen (Stand 2019*). Die Region ist katholisch geprägt, galt bis vor ca. 60 Jahren als wirtschaftsschwach und wird heute hauptsächlich vom Bergtourismus geformt.

Bei vielen Touristen zwar beliebt, bleibt ihnen die kleine Stadt in den Alpen und deren Bewohner fremd. Dies gilt natürlich auch andersrum. Tiroler|innen lernen die urlaubenden Menschen als das Aushängeschild ihres jeweiligen Landes kennen. Symptomatisch werden zum Beispiel die Vorurteile zwischen Tirolern und Deutschen in den satirischen “Piefke-Saga”-Filmen** auf die Spitze getrieben.

Ein kleiner Austausch zwischen dem Rest der Welt und den Innsbrucker|innen findet akademisch statt. Das bunte Völkchen der Studierenden bildet fast 35% der Stadtbevölkerung. Man teilt sich Bars, die Berge und den Platz in der Abendsonne am Inn. Aber auch einen ziemlich umkämpften Wohnungsmarkt; z.B. sind die Mieten Innsbrucks fast vergleichbar mit jenen in München. Sehr wahrscheinlich fände man Anschluss – würde man zusammen feiern, studieren und sporteln – wenn man Teil der Innsbrucker Studentenschaft wäre. Bei vielen – vor allem deutschen – Abiturienten gilt die Stadt zudem als Tipp, um ohne NC das Studium beginnen zu können. Und meist verlässt das akademische Jungvolk nach dem Studienabschluss die Stadt wieder.

Die meisten Tiroler|innen wiederum verbringen ihre Arbeits- und Freizeit an eben jenem Ort mit eben jenen Leuten, welche sie schon aus dem Kindergarten, der Schule, dem Chor, dem Verein oder Studium kennen. Sie bilden die Gruppe der “Einheimischen” und ihnen gegenüber stehen “alle Anderen”. Die Stadt und die Umgebung lebt vom Bergtourismus. Und ein Freund meinte mal: “Um Karriere zu machen, kommt man nicht nach Innsbruck. Außer du bist Skilehrer[in] oder Bergführer[in].”

Was also, wenn man – wie ich damals – in keine der Gruppen passt, also “kein|e Student|in”, “kein|e Tourist|in”, kein “Bergfex”*** und hörbar “nicht von hier” war? Was wenn man gekommen wäre um sich einzufinden, im beruflichen wie privaten Kontext?

Tirols Wirtschaft lässt sich mit zwei Worten beschreiben: Berge und Tourismus. Und abseits davon? Was, wenn man dort hinzieht? Was, wenn man dort lebt und arbeitet? ©Christina Humpf

Wo kimmsch du denn her?

Zieht man ins Unbekannte, ist man im Arbeitsumfeld genauso neu, wie in der Stadt selbst. Ganz allgemein ist ja bekannt wie schwierig es sein kann, nach einem Umzug, sich ein neues Privatleben und wieder einen Freundeskreis aufzubauen. Und auch in Städten lebt es sich heutzutage immer anonymer. Auf beides kann man sich nur bedingt vorbereiten.

Ganz blauäugig dachte ich bei meinem Umzug, Innsbruck und die dortige Mentalität seien vergleichbar mit denen anderer Landeshauptstädte. Solche wie ich sie u.a. im Hauptstudium (nähe Stuttgart), im Erasmus-Semester (Graz und Wien) oder bei Praktika (in München und Augsburg) kennengelernt hatte. Ich dachte „Anschluss“ und damit auch „Ankommen“ funktionieren ähnlich wie in der Schule, dem Studium oder beim Arbeiten als Praktikantin: Man ist sich sympathisch, hat gemeinsame Interessen, trifft sich und unternimmt etwas zusammen.

Die Vorurteile in der Piefke-Saga schienen mehr zu sein, als ein satirisches Märchen. Sie begegneten einem in Innsbruck in den unwahrscheinlichsten Momenten.

Doch ich erlebte Innsbrucks Menschen meinem Vorhaben gegenüber als verschlossen, ablehnend oder gar feindlich. Meine sechs Jahre waren häufig geprägt von einem Gefühl des “anders seins”, von einem “du gehörst nicht dazu” und einem “im Regen stehen gelassen werden”. Wie sich das zum Beispiel äußerte? Die Wohnungssuche war streckenweise eine Herausforderung. Viele Bewerbungsgespräche waren seltsam, die Witze tendenziös und die Fragen übergriffig. Im Krankheitsfall wurde man gekündigt. Und auch ohne jegliche Beschädigung wurde versucht, die gesamte Mietkaution einzubehalten.

Es waren aber auch die kleinen Dinge: So schien es Volkssport zu sein, jede “nicht einheimische” Person, welche nach dem Weg fragte, in die falsche Richtung zu schicken oder ihr zu versichern, dass es bis zum Ziel nur 10 Minuten seien. Abschließend meine Lieblingsanekdote, über die Unmöglichkeiten von “Ankommen” oder “Einfinden”; auch weil es so harmlos wirkt.

Physiotherapeutin fragt: “Naaaa… Sie kommen aber nicht von hier, oder? Wo kommen Sie denn her?” 

Älterer Herr: “Ja stimmt – eigentlich aus Bamberg. Ich wohne erst seit 56 Jahren in Innsbruck.”


Eher ein Gefühl

Nur sechsundfünfzig Jahre also… Ich blieb kaum sechs Jahre lang IMMER WIEDER “die Neue”, “die Andere”, die “du kommst aber nicht von hier?” und hatte dann genug. Dabei war ich potenziell vergleichsweise privilegiert, denn ich war zumindest nicht sichtbar “anders”. Nur hörbar. Ich, für das Tirolerische Ohr nach “Hochsprache” klingend, galt bei den (meisten) Tiroler|innen unterschwellig als “Piefke” (umg.: eine spöttische oder abwertende Fremdbezeichnung für deutsche Volksgruppen). 

Und selbst wenn die Fragen nach Herkunft und aktueller Studienwahl nicht böse gemeint bzw. nachvollziehbar scheinen oder das Piefke-Schimpfwort auch scherzhaft verwendet werden kann, ein gewisses Gefühl blieb zurück. Es schwingt nämlich keine Neugierde, sondern Abgrenzung mit. Es ist tendenziös. Es machte anders und einsam. Es dauerte zwei Jahre für erste zaghafte Freundschaften. Humor ist, wenn man trotzdem lacht? Manchmal einfach nicht mehr. Denn nur mit erheblicher Resilienz ließen sich sechs Jahre überhaupt bestehen.


Tipps und Learnings: “Auswandern und Einfinden”

Um zu verstehen, wie es sich anfühlt irgendwo ganz neu anzufangen, muss man erstmal raus aus dem heimatlichen Komfort. Raus aus den sichernden Strukturen oder etablierten Netzen (wie Schule oder das Studium). Und das auf unbestimmte Zeit (also auch kein Praktikum oder Erasmus-Semester).

  • Wieviel Zeit man sich Selbst zum Einfinden, Ankommen und Wohlfühlen in einer neuen Stadt oder einem Land gibt, ist sicher individuell. Ich habe mir bei meinem nächsten Umzug detaillierter überlegt, was ich erreichen möchte und wie lange ich ohne bestimmte Parameter dort leben mag. Diese Parameter bezüglich des Standorts könnten z.B. spezifische berufliche Erfahrungen, die Aussicht auf nächste Karriereschritte, die intensive Auseinandersetzung mit dem Hobby oder ein befriedigendes Privatleben sein.
  • Ich habe gelernt, dass mich nichts auf meine erste “Neuling”-Erfahrung hätte vorbereiten können. Doch bei jedem meiner Umzüge seither, werde ich gelassener. Ich bin darauf vorbereitet erstmal alleine und manchmal einsam zu sein. Ich kann mir Zeit lassen, um Stadt und Menschen zu erspüren. Und wenns mal nervt: Ich suchte Gleichgesinnte erfolgreich online und entdeckte so die Städte und lerne neue Leute kennen
  • Wenn man auswandert, umzieht und “sich einfach mal ausprobieren” möchte (das ist ja vollkommen ok, oft wunderbar und voller Erfahrungen), dann ist ein Exit-Notfallgroschen wichtig. Ein Betrag, der einen weiteren Umzug oder Rückzug ermöglicht. Ich hatte den aufgebraucht und bedanke mich an dieser Stelle bei meinen Eltern und dem Privileg ihrer Hilfe.

Auf ein Wiedersehen, Innsbruck?

Auch wenn ich die Stadt nicht wirklich vermisse und der Umzug, eher ein Wegzug, unbedingt notwendig zum “Vorankommen” war, so war die Zeit dort wichtig für meine persönliche Entwicklung und das möchte ich nicht missen. Heute denke ich oft mahnend an meine Zeit in Innsbruck; Denn jedes meiner damaligen beruflichen Engagements und privaten Erlebnisse ist bis heute lehrreich. Und selbstverständlich ist da wo Schatten ist, auch Licht.

Natürlich war nicht alles furchtbar. Dies war z.B. meine Idylle bei der abendlichen Jogging-Runde am Inn. ©Christina Humpf

Rückblickend betrachtet, entziehe ich den Geschehnissen und Beobachtungen meine heutige Haltung, Kraft und Stärke. Und dafür bin ich dankbar. Es macht mich zu der einladenden Person, die ich heute – dank meines Umfelds – sein kann.

Ich persönlich schätze eine Stadt und Arbeitsumgebung, in der man leicht Anschluss findet. In der es viele unterschiedliche Menschen aus vielen unterschiedlichen Regionen gibt. Mich belebt eine gewisse Offenheit, Neugierde auf Unbekanntes und Willkommenskultur, privat wie beruflich. Je bunter, inklusiver und diverser, umso besser. Unter solchen Umständen fühle ich mich wohl, blühe ich auf, partizipiere und wachse ich.

In Teil 3 Engagements in einer Kleinstadt? Wenig von allem geht es um meinen Erfahrungsprozess in eine neue Stadt zu ziehen und neu in der Arbeitswelt zu sein. Es geht um Firmen, Haltung und das Willkommensein im beruflichen Umfeld. Was, wenn die Stadt bald schon wenig hergibt, zu klein für die eigenen Ambitionen wird und man Neues nicht unbedingt willkommen heißt. Hier entlang!


Quellen

*) Einwohnerzahlen Innsbrucks vom offizellen Stadtportal (Innsbruck.gv.at)

**) Piefke Saga – Filme und deren Aktualität (Wikipedia und Dossier in der Tiroler Tageszeitung)

***) Bergfex ist unter anderem eine in Süddeutschland und Österreich gebräuchliche Bezeichnung für eine|n leidenschaftliche|n Bergsteiger|in (Wikipedia)